Lesecouch Sabine Lettau

Sabine Lettau - Leseprobe aus "Nebelmönche"

Übermütig lachend sprang Luise in ihr Zimmer hinauf, holte Badesachen und ein Buch. An der Anmeldung hatte sie vorhin den Schlüssel für das Parktor entdeckt und heimlich mitgenommen.

Zufrieden schlenderte sie durch den Park zum Pavillon. Sie sah sich um, fühlte sich unbeobachtet und zog hinter dem Häuschen ihren Bikini an. Der leicht bewegte See, der Wald, die Burg auf dem Felsen, sie genoss die Kulisse, bevor sie in das Wasser tapste. Sie schnappte nach Luft, so kalt war es. Zentimeter für Zentimeter ließ sie sich tiefer hineingleiten. Erst einmal untergetaucht, empfand sie es als angenehm. Sie schwamm einige Züge. Das Wasser streichelte ihre Haut. Sie genoss die Schwerelosigkeit, drehte sich auf den Rücken und paddelte weiter. Alle Geräusche waren gedämpft. Es rauschte und gluckerte in ihren Ohren. Mit den Händen und Füßen machte sie nur ab und zu behutsame Bewegungen, um nicht abzusinken. Sie schloss die Augen und ließ sich treiben.

Als sie die Augen wieder öffnete, war sie ein ganzes Stück auf den See hinausgetrieben worden. Ein alter Mann rannte über die Wiese. Er gestikulierte wild. Luise drehte sich auf den Bauch und änderte ihren Kurs direkt auf den Wald zu. Schon wieder ein Wachhund! Die sollten sich andere Opfer suchen!

Da spürte sie eine kalte Strömung, etwas Glitschiges strich von der Hüfte über die Außenseite ihres Beines bis zum Fuß. Luise erschrak, schnappte nach Luft. Beklemmung breitete sich in ihrer Brust aus. Panik stieg auf. Hektisch ruderte sie mit den Armen.

Am Ufer brüllte der alte Mann: „Kommen Sie sofort da raus!“


Das verstärkte ihre Angst noch. Sie versuchte, Boden unter ihren Füßen zu finden. Das Wasser schlug über ihrem Kopf zusammen. Sie ruderte wieder an die Oberfläche, hustete, schnappte nach Luft und schwamm weiter in Richtung Ufer. Endlich spürte sie den Untergrund, aber es war noch zu tief zum Laufen. Ihr fehlte inzwischen die Kraft. Sie zwang sich, ruhiger zu atmen, näher an das Ufer zu kommen. Der Mann war in das Wasser gewatet und hielt ihr die Hand entgegen. Luise griff danach und er half ihr heraus.

„Sie haben mich furchtbar erschreckt. Ich bin keine Fremde. Ich darf hier sein!“, keuchte Luise, beugte sich vor und stemmte ihre Hände auf die Oberschenkel.

„Ich weiß sehr wohl, wer Sie sind. Deshalb sollten gerade Sie nicht hier sein!“, kam scharf die Antwort. Versöhnlicher setzte er hinzu: „Das ist kein guter Ort für Sie! Sie haben es ja gespürt. Meiden Sie den See, den Wald und vor allem … die Ruinen!“ Er drehte sich um und ließ sie stehen.

Luise rutschte an der Wand des Pavillons hinab. Ihre Zähne klapperten, ihr Herz wummerte. Sie hob ihre Hände. Sie zitterten so stark, dass sie sie krampfhaft auf ihre Oberschenkel presste. Misstrauisch beäugte sie den See. Da war nichts zu erkennen. Was hatte an ihrem Bein entlanggestrichen? Für einen Fisch war das Ding viel zu groß gewesen.

„Krah, krah“, meldete sich ein Rabe. Er hockte auf einem abgestorbenen Baum am Waldrand und beobachtete sie.


Beobachtet mich! Ich werde langsam verrückt von diesem Vieh! Forschend sah sie zum Wald hinüber. Was ist damit? Und was für Ruinen? Wieso sollte gerade ich da nicht hingehen.


Sabine Lettau - Leseprobe aus "Das alte Kino auf dem Montmartre"

Es ist schon lange Zeit her, ich studierte in den neunzehnhundertneunziger Jahren Literatur in Paris. Meine winzige Wohnung befand sich im Dachgeschoss eines Bürgerhauses auf dem Montmartre, unterhalb der Treppen zu Sacré-Cœur. In der Küche war nur Platz für eine Person. Gerade mal das Bett passte in das Schlafzimmer. Durch das Fenster konnte ich auf das Dach klettern und den Blick über die Stadt, die Seine bis zum Eiffelturm genießen.

 An jedem Abend fuhr ich mit der Metro bis zum Place Blanche, schmunzelte über die Touristenbusse und das Lichterspektakel vom Moulin Rouge und ließ mich entlang des Boulevard de Clichy durch die Menschenmassen treiben. Am Place Pigalle schwenkte ich in das Herz des Viertels ein und betrat eine andere Welt.

 Ich liebte es, abends durch diese Straßen zu streifen, die Düfte aus den Restaurants und Boulangerien zu inhalieren. Die Aromen von frischem knusprigem Baguette und buttrigen Croissants erinnerten meinen Magen daran, dass meine letzte Mahlzeit schon viele Stunden zurücklag.

 Das Licht in den Schaufenstern wirkte warm und heimelig. Lampen und kleine Scheinwerfer beleuchteten zusätzlich die Fußwege, auf denen sich dicht an dicht Stühle um winzige runde Tische drängten. Ich schlängelte mich mitten hindurch oder lief auf der Straße über das unebene Pflaster, wo Autos die Fußgänger anhupten.

 Vielsprachiges Stimmengewirr umgab mich, und ich beobachtete die Leute vor den Restaurants und Cafés und ihre Eigenarten. Einige thronten dort, um gesehen zu werden, andere saßen allein an ihrem Tisch, beugten sich über ihr Glas Rotwein, der Einsamkeit ihrer Wohnung entflohen. Die Temperamentvollen unterhielten die halbe Straße. Gestenreich diskutierten sie mit einem Bekannten von Gegenüber, palaverten gegen die Konkurrenz des Nachbarcafés an. …

 Über die Rue Ravignan gelangte ich zum Place Émile-Goudeau. Ich mochte den baumbestandenen Platz mit dem altmodischen Trinkwasserbrunnen. In meiner Fantasie stellte ich mir vor, wie hier um neunzehnhundert Picasso, Modigliani und andere noch arme, unbekannte Künstler ihren Wein genossen und sich ihren Musen widmeten.

Nur wenige Häuser weiter saß der alte Arthur an einem Caféhaustisch vor dem Petite table, nickte mir zu und hob sein Glas zum Gruß. Tagsüber bot er Führungen über den Cimetière de Montmartre an. Abends trank er hier seinen Rotwein, aß ein Croque Monsieur und flirtete mit Giselle, der Kellnerin.

Zwei Tische weiter hielt Madame Margaux Hof. Sie war eine Grande Dame mit der Eleganz des alten Paris – Chanel-Kostüm, eine Pelzstola um die Schultern, das schneeweiße Haar wie frisch vom Coiffeur, Lippenstift und Nagellack blutrot. Sie wäre Schauspielerin gewesen, flüsterte mir Giselle zu. Nie saß sie ohne Zigarette an ihrem Tisch, das Ganze inszeniert mit einer handlangen Zigarettenspitze. …

 In meiner Wohnung angekommen nahm ich meine Baklava und einen Café au Lait, kroch durch das Fenster auf das Dach, lehnte mich an den Schornstein und genoss den Blick über das Lichtermeer von Paris. …

 Von meinem Sitzplatz aus schaute ich in eine Seitengasse, die Rue des Poulettes. Sie lag abseits des Treibens, ohne Cafés, die ihr Licht auf die Straße strahlten. Hier trieben sich nachts die Ratten aus den Paris Egouts herum, dem weit verzweigten Untergrundsystem. Deshalb mied ich diesen Weg nach Sonnenuntergang.

 Ort meiner Fantasien war ein vergessenes Kino in dieser Gasse. In den Schaukästen hingen Fetzen verblasster Filmplakate. Die doppelflügelige Eingangstür verbarrikadierten gekreuzte Bretter. Die zerbrochenen Röhren der Leuchtreklame erinnerten an bessere Zeiten. Ich hatte wochenlang gegrübelt, welchen Namen die Röhren einst gebildet hatten. Cinema des Anneés folles – Kino der goldenen zwanziger Jahre – war für mich das einzige sinnvolle Ergebnis gewesen. Aber nirgendwo konnte ich etwas zur Geschichte des Kinos finden. Selbst Giselle hatte nur mit den Schultern gezuckt und gemeint, es wäre ihr noch nie aufgefallen.

 Wie konnte man ein ganzes Kino übersehen? Zu gern hätte ich einen Blick in das Innere geworfen. Aber selbst durch die Glasscheiben des Eingangs konnte ich nur in absolute Dunkelheit starren.

 Ich biss in mein erstes Stück Baklava und leckte mir den Sirup von den Fingern. Vor Genuss schloss ich die Augen, als ich die süße Füllung aus Pistazien und Nüssen zwischen dem blättrigen Teig kostete. Ich spülte das Gebäck mit einem Schluck Café au Lait herunter, schaute wehmütig in die Gasse und stutzte.

 Aus dem Kino fiel ein Lichtschimmer auf den Fußweg. Ein Funke Hoffnung glomm in mir auf. Würde jemand dieses Kino wiedereröffnen?

 Ich wischte mir die Hände an der Serviette ab und kletterte zurück in die Wohnung. Dort schnappte ich mir eine Jacke, rannte die Treppen hinab, die Straße entlang und bog in die Gasse ein.

 Tatsächlich! Die Tür stand offen. Misstrauisch äugte ich nach Ratten und wich den dunkelsten Ecken aus, als ich näher ging. Leise Klaviermusik drang aus dem Kino und ich schob die Tür ein Stück weiter auf.

  


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