Lesecouch Dieter Nötzel


Dieter Nötzel

Das Schwarze Kreuz

Es roch nach Branntwein, Bier und gebratenem Speck. Der kleine Schankraum war angefüllt mit einer Vielzahl derber Gestalten und das müde Licht der wenigen tief über den Tischen hängenden Leuchten wurde von dicken Tabakschwaden noch diffuser. Eigentlich wollte ich sofort wieder kehrt machen, aber es regnete in Strömen und meine Sachen waren völlig durchgeweicht. Also hielt ich es für besser, einen Augenblick zu verweilen. Am Tresen fand ich ein Plätzchen. Ein alter kleiner Mann rückte freundlich mit seinem Bierglas etwas zur Seite. Der Wirt musterte mich mit zugekniffenen Augen. In seiner Kinnlade steckte eine dicke Zigarre und während er sich zu mir wandte, verstand ich zwar kein einziges Wort in den vom Stimmenwirrwarr triumphierenden Ort, aber die Zigarre wackelte zeichengebend zwischen seinen Lippen.

"Einen Weißen" schrie ich. Die Augen des Wirts fuhren für einen Augenblick des Erstaunens auf und rot unterlaufene Augäpfel wurden sichtbar.

Als er sich abwandte und eine Flasche Klaren hinter sich ergriff, stiegen dicke Röllchen von Nebelschwaden von seiner Zigarre in das getrübte Umfeld.

Der Schnaps tat gut und die nach innen rieselnder Wärme zog durch meinen Körper.

Der Alte neben mir stieß mich an und lächelte aus seinen kleinen müden Augen.

"Tut gut?"

Ein zustimmendes Nicken meinerseits sollte die Konversation gleichzeitig beenden, doch der Kleine schob sein Glas Bier wieder dichter zu meinem ohnehin engen Stehplatz und begann abermals einen Kontakt zu suchen.

"Keinen Hund jagt man bei diesem Wetter vor die Tür“, meinte er.

"Ja", sprach ich, um nicht unhöflich zu sein. Irgendwo tat mir der Alten leid.

"Muss aber gleich weiter nach Annaberg, will nur etwas Wärme tanken."

Ich war bei der Wahrheit geblieben, vielleicht auch, weil die Zeit drängte. Vorsichtig fuhr ich mit meiner Rechten in die Brusttasche meiner ledernen Jacke und fühlte mein Portemonnaie und die Papiere; sie waren trocken, Gott sei Dank. 

Ich ertappte mich dabei, dass ich begann nachzusinnen, welche Papiere ich wohl behütete und fühlte, aber in irgendeiner Weise hatten sie mit dem Kleinen zu tun. Auch schien mir das Gesicht bekannt, nur zuordnen konnte ich es beim besten Willen nicht.

"Nach Annaberg", murmelte der kleine Mann in sich und sein Blick wurde schärfer. Es fiel mir sofort auf, dass er gedanklich reagierte und so beschloss ich vorsichtiger zu sein.

"Zur Bergstadt kannst du zwei Wege nehmen. Der eine über die Landstraße, führt dich direkt an dein Ziel, ist aber nicht der kürzere. Der andre ist kürzer, aber du musst durch die Teufelsschlucht. Dort sollte man sehr vorsichtig sein! Hinter der Weggabelung und hinter der Schlucht steht das Schwarze Kreuz. Dort soll anno dazumal ein Ritter erschlagen und enthauptet worden sein."

"Na wenn schon", entgegnete ich und tat scheinbar uninteressiert. Gleichzeitig holte ich ein paar Groschen aus meiner Tasche und legte sie dem qualmenden Wirt vor die Pranke.

"Nicht’, wenn schon", brauste der Alte zischend auf. Beinah hätte er vor Erregung sein halb geleertes Glas umgestoßen. Er hustete und das klebrige Etwas aus seiner Kehle spritzte auf den Boden. Scheinbar altes „Kumpelleiden“.

"Wenn Du ihn siehst, den Ritter ohne Kopf, kehre sofort um und nehme die Landstraße".

"Einen Ritter ohne Kopf, was soll der Unsinn".

Der Wirt hatte sich abgewandt. Ich glaubte ein Grinsen in seinem Gesicht gesehen zu haben. Die anderen Gäste rechts neben mir schienen unberührt, oder verfolgten ihre eigene angeregte Unterhaltung. Ich verstand in dem Lärm der Kneipe kein einziges Wort und schon stand ich in der Tür.

Draußen fauchte noch immer das nass kalte Novemberwetter, doch der Regen hatte fast völlig nachgelassen. Mein Motorrad sprang sofort an und mit einem kräftigen Ruck legte sich der erste Gang in das Getriebe. Der Scheinwerfer erhellte die von Pfützen übersäte Straße und leuchtete gespenstig in die hohen blattlosen Bäume, die rechts und links den Straßenrand begrenzten.

Der kernige Viertakter dröhnte in die Nacht und zog an. Kein Mensch war noch unterwegs. Die Bauern auf den Feldern schwitzten längst im Stall oder streckten ihre geschundenen Glieder hinter den warmen Ofen. Der Wind säuselte gleich so, als wolle er seinen Teil zum ländlichen Mistwetter beitragen. Die dunkle wuchtige Wolkenwand riss zeitweise auf und der Mond leuchtete hin und wieder für wenige Augenblicke zwischen den monströsen und bizarren Fetzen der Wolkenränder. Fast hätte ich eines der tief ausgefahrenen Schlaglöcher auf dem miserablen Weg übersehen, denn die Natur formte gerade ein Abbild eines übernatürlichen, so recht gespenstig wirkenden Kopfes mit den vom Mondlicht als Kulisse erhellten Wolkenrändern. Das seltsame Gesicht schwebte hoch am Horizont und veränderte von Sekunde zu Sekunde sein Aussehen. Lange graue Haare, eine hohe Stirn, tief liegende dunkle Augenhöhlen, kantige Backenknochen und ein unansehnlicher langer, zerzauster Bart, der im säuselnden Wind spielte, prägten das Abbild, das mir aus einer der zahlreichen, sagenhaften Erzählungen im Erzgebirge, aber auch als Reproduktion der eigenen Fantasie gegenwärtig wurden. Ich fasste die alten Gummis am Lenker fester. Sie fühlten sich weich und griffig an, und doch spürte ich das Pulsieren des Motors. Was wenn das Vibrieren mitten in der Nacht plötzlich versagen würde?

Unruhe packte mich und so gelangte ich an die Weggablung. Gerade weil der kleine alte Mann so sonderbar erschien und der Wirt fast verächtlich zu mir geschaut hatte, lenkte ich in Richtung Teufelsschlucht. Der Weg wurde schmaler und dichter umwaldet. Gleich einem Dach aus dem Wirrwarr tausender von Ästen und Zweigen, der Nadel- und Laubbäume, die rechts und links stolz emporwuchsen, legte sich das knackende und ächzende massive hölzerne Gitter tunnelförmig über den gesamten Weg. Hier hatte es kaum geregnet und der Boden schien knochenhart. Donnernd schallte das Dröhnen des Motors dem Hohlweg entlang, gleich einem Höllenruf, in die unwirkliche Ruhe der Nacht. Plötzlich flackerte mein Scheinwerfer und der Motor begann zu stottern. Meine Hände hielten die Gummis am Lenker fast krampfhaft umschlossen. Dennoch, nach wenigen Metern musste ich die Kupplung ziehen, denn das Getriebe bremste ruckartig meine Fahrt aus. Der Motor gab keinen Laut mehr von sich. Um mich herum hörte ich die nächtliche Stille. Selbst der Wind schwieg urplötzlich und nur das Pochen meines Herzens drückte mir das Blut in den Hals und in den Ohren brodelte die Einbildung fremden, tödlichen Lärms der näher zu kommen schien. Es war der Hufschlag eines Pferdes, das dem Hohlweg herauf trabte. Metall klirrte, gleich einer – ich wollte es nicht meiner Vorstellung zumuten – gleich der Rüstung, eines Ritters. 

Der Ritter ohne Kopf! Mein Haar sträubte sich und ein eiskalter Schauer rollte meinem Rücken hinab. Dies erfolgte in immer wiederkehrenden Wogen und das erschreckende Geräusch kam näher und näher.

In aller Hast versuchte ich den Motor zu starten. Nach mehrmaligen sinnlosen Versuchen bemerkte ich, dass ich die Zündung ausgeschaltet hatte. Rasch legte ich den Zündschalter um und schaltete den Scheinwerfer ab. Finsternis umgab mich. Tödliche Finsternis und eisige Stille.

Eben noch hatte der Lichtkegel sich in den Hohlweg ergossen. Neben mir, in kaum zwei Meter Entfernung stand am Fuße einer wuchtigen Eiche ein schwarzes Kreuz. Die Jahrzehnte hatten das Metall mit einer dicken Schutzschicht überzogen und doch hatte es im krassen Widerschein des Scheinwerfers geglitzert. Das Kreuz für einen Toten Ritters, vor hunderten von Jahren aufgestellt. Jetzt verfluchte ich den Hohlweg genommen zu haben.

Am Ende desselben, so sehr ich auch in die Richtung des Lichtkegels gestarrte hatte, versank im Bruchteil von Sekunden eine visuelle Vorstellung, die sehr wohl einem Reiter entsprochen haben konnte im Boden, und nur eine Wolke, neblig und von einer plötzlich aufkommenden Böe zu mir getragen, ließ meine Knie wanken. Der Geruch von Moder, Pferdemist und derben Schweiß umwehte mich, bis mit der unwirklichen Stille nur ein leises Plätschern an mein Ohr drang. Dann nahm ich es wahr. Es roch nach Benzin. Schnell streifte ich meinen Handschuh ab und tastete zum Vergaser. Meine Fingerkuppen spürten Nässe, leicht und schmierig. Der Benzinschlauch war vom Vergaser gerutscht und tröpfelte das kostbare Nass auf den warmen Motor. Mit zittrigen Fingern versuchte ich das Schlauchende über das Nippel zu stülpen. Mir war, als hinge mein Leben vom Fluss des Kraftstoffs in den Vergaser des alten Motors ab. Immer wieder rutschte das enge Schlauchende am viel zu groß erscheinenden Nippel ab; doch dann endlich hielt der Benzinschlauch und ließ sich sogar noch etwas nachschieben. Ich wagte nicht in die schweigende von eigenartigen Geräuschen geschwängerte Nacht zu blicken und schon gar nicht, war ich noch imstande Geräusche aufzunehmen und zuzuordnen, da mein Herzschlag immer wilder und lauter pochte, dass alle Geister es hören mussten. Ohne weitere Überlegungen anzustreben, schaltete ich die Zündung wieder zu und trat ich mit banger Zuversicht den Kickstarter und der Kolben bewegte sich mit saugendem Geräusch, ohne dass die Zündung folgte. Dann beim erneuten Durchtreten des Kickhebels willigte der Motor endlich ein und sprang an. Sofort donnerte der satte Sound des Viertakters in den Hohlweg und der Scheinwerfer machte augenblicklich Schluss mit der gespenstigen Situation. Rasch wendete ich das Krad und gab Gas. Je kräftiger der Donner im Wald erschallte und dem Hohlweg hinab zog, umso sicherer fühlte ich mich. Ich fuhr zur Kreuzung auf der Landstraße zurück, mit viel Motorlärm, die seltsamen Geister hinter mich lassend.


Am anderen Morgen erwachte ich mit schmerzenden Knochen und stellte fest, dass ich geträumt und verschlafen hatte.

Ich öffnete das Fenster und schaute in den morgendlichen Verkehr der Stadt. In meinem Carport aber stand sie, die alte Maschine, welche ich gestern am Sonntag von einem kleinen alten, aber freundlichen Mann auf dem Land erstanden hatte. Die Maschine war über einhundert Jahre alt und an die vielen Geschichten, die der Kleine mir im Traum in seiner Ortskneipe noch erzählt hatte, konnte ich mich beim besten Willen nicht mehr erinnern. Nur an die Zulassung und den KFZ-Brief für die Zündapp, die ich wie alte Liebesbriefe in meiner Brusttasche dankend verstaut hatte.

Ein müdes Lächeln legte sich auf mein Gesicht und dann beeilte ich mich, bis zum Mittag hatte ich für diese Aktion noch dienstfrei beantragt.   


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