Lesecouch Benita Martin

"Die Schulbank"


Ein Lesecouch - Beitrag von Dr. Benita Martin


Eine wahre aus dem Erzgebirge

 

"Die Schulbank"

Er sass neben mir. Ein stiller Bengel. Nie richtig in Erscheinung tretend. Weder in seinen schulischen Leistungen noch im Aussehen. Die Figur ohne Ecken und Kanten, irgendwie in einer Art Dauer-Babyspeck.

Mit 14.

Aber er war eben mein Banknachbar. Und es ergibt sich immer eine Art "Beziehung" zwischen Banknachbarn der Schulzeit.

Nie durften wir uns unsere Banknachbarn selbst aussuchen. Der Klassenlehrer legte fest, wo man zu sitzen hatte und wer zu einem passte.

In den Klassenstufen existierten im Erzgebirge um 1965 noch Holzgestühl in festen Dreierreihen. 

Man platzierte mich die ersten 5 Jahre in die vorderste Reihe zwischen die beiden grössten Rabauken. Ich stille, kleine zierliche Schwarzhaarige sollte die Barriere bilden, Ruhe und die Lust zum Lernen in diese männliche Dorfjugend bringen. 

Was mir auch wundersamerweise irgendwie gelang. Wenigstens kurzzeitig. 

In diesen Unterrichtsstunden.

Nun, in der Achten, änderten sich Sitzordnung und Sitzbänke. Moderne Schulmöbel wurden angeschafft. Zweier-Tische mit einfachen Tischplatten und brettartiger Ablage darunter, 8fach hintereinander für über 32 Schüler in 4er Reihen aufgestellt. Keine quietschenden zusammenhängenden Holzbänke mehr, nein dünne Rohrgestühle mit platten harten Sitzflächen waren das und platte abwischbare Tische mit dünnen Rohrbeinen, höhengleich genormt. Sie stellten das neue Schulmöbel dar. Aber was machte das schon einem Kind aus.

Nichts.

Ausser das Rucken auf dem Fussboden. Das war nun da.

32fach.

Und mich setzte man in die vorletzte linke Reihe.

Eben nur mit einem Sitznachbar.

Ich nenne ihn FrankT.

FrankT fand schnell heraus, soweit hinten platziert, war man relativ sicher vor den Blicken der Lehrer, trotz durchscheinender fraktiler Schultische. Ein dicker Schulbeutel auf die Ablage unter die Tischplatte gestopft, sorgte zusätzlich und sicherheitshalber vor neugierigen Blicken. Der Unterricht war langweilig und eine süsse, kleine Banknachbarin könnte für Kurzweiligkeit sorgen.

Also schaute er stur geradeaus, ein feines Lächeln im Gesicht, tastete unter der Bank nach meinem Oberschenkel. Fuhr ihn langsam hoch, auf den Schritt zu.

Ich maunzte los. "Lass das."

Er feixte, zog die Hand zurück, um sie nach Sekunden wieder auszufahren. Seine Finger waren weich, die Fingernägel jungenhaft, nicht direkt gepflegt.

Ich wollte das nicht. Das Gefummel.

Dann war minutenlang Ruhe.

Bis das Streicheln von Neuem begann. Immer wieder. Vorsichtig, sogar kleine Zentimeter bis unter den Rocksaum.

Jede Stunde. Manchmal liess er seine Jungshand Sekundenbruchteile einfach still auf meiner Haut liegen.

Der Unterricht war nicht anspruchsvoll, den Stoff verinnerlichte ich mir auch trotz dieser Störungen. Aber mit der Ruhe war es aus. Ab und zu verpasste ich ihm einen Klaps auf seine freche Hand. Und mein geflüstertes "hör auf", "lass das", "Schluss Ende", begleiteten den gesamten Unterricht. Das sorgte für Unruhe. In der vorletzten Reihe. Was ging in diesem Jungenhirn vor sich. Nie machte er mir außerhalb des Unterrichts Avancen. Gefiel ihm meine Hilflosigkeit in dieser fast privaten Atmosphäre? Mein "Stillehalten-Müssen"? Oder war es einfach nur eine Kinderei? Ein Necken? Ein Ausloten, wie weit man gehen könnte?


Mir gefiel es nicht so recht. Brave Schülerin, die ich war. Und für sexuelle Gefühle war ich noch zu jung. Zu unvorbereitet. Eigentlich war ich mit 14 schon Fräulein, aber im Mädchenhirn noch ein Kind: Auf die Bäume klettern, Baumhäuser bauen, Schätze suchen, Filmhelden aus Zeitschriften ausschneiden und an die Wand pinnen. Dichten, Nähen, Malen. Das waren damals meine Beschäftigungsfavoriten.

Trotzdem trug ich zur Schule Röcke... Kleidchen...

Wenn ich es so recht jetzt beim Schreiben überlege, keiner der Mitschüler beschwerte sich über die Unruhe hinten in der vorletzten Reihe. Keiner registrierte etwas? Wieso half mir niemand? Warum meldete das kein Mitschüler dem "Klassenratsvorsitzenden"?

Ich tat es auch nicht.

Er streichelte ja nur.

Die Unruhe hinten in der vorletzten Reihe registrierten dann doch irgendwann die Lehrer. Aber anstatt "uns zu trennen", einen von uns beiden weg zu setzen, reagierten sie mit Strafen. Nicht für FrankT. Zumindest sagte er mir nichts davon.

Ich wurde zum Schulrat zitiert.

Wurde zur Ruhe ermahnt. Bekam eine Abmahnung. Wie hieß das damals? Eintrag? Tadel? Und in Betragen eine 2.

Meine 1 war futsch. Was soll's.

Ich wechselte eh 4 Monate später zur EOS nach Karl-Marx-Stadt, Erweiterte Oberschule. Das stand so fest, wie das Amen in der Kirche.

Dann fand die Abschlussdisco statt.

FrankT nahm mich zur Seite und meinte, er sei für mich nicht schön genug, aber er hätte einen Cousin in D-dorf namens Romeo. Und der wäre schön und passend für mich. Er würde ihn zur Disco mitbringen und mir vorstellen und uns "zusammenbringen".

Romeo war tatsächlich ein schöner Junge.

Die Vorlage eines "Davids von Michelangelo".

Und er gefiel mir sehr.

Und er gab mir den ersten Zungenkuss, oben im Waschraum des Hortes. Ungestört, ausgiebig, jungenhaft.

Das war mein erster Kuss nicht nur züchtig auf Wange, sondern intensiv mit Zungenspiel.

Naja.

Spiel.

Romeo besuchte mich nach dieser Discopremiere einige Male zu Hause.

Aber die Chemie stimmte nicht.

Er war doch nicht der Richtige.

Ich beendete die Sache.

Dann war lange Ruhe.

Abitur, Studium, Approbation, Fachärztin, Niederlassung.

Und da war er wieder.

FrankT.

Ein Mann nun, immer noch die Art Babyspeck drumherum. Er würde Horoskope erstellen, ob ich eines möchte, er würde es für mich kostenlos machen.

Eigentlich halte ich nichts davon, wollte ihn aber nicht brüskieren, ihm nicht wehtun. Also sagte ich halb zu. Und 3 Wochen später überreichte er mir freudestrahlend den dicken Hefter.

Bis heute ist es mir nicht gelungen, ihn, den Hefter, mir vollständig zu verinnerlichen.

Vielleicht sollte ich es noch einmal versuchen...

 

Wieder war lange Zeit Ruhe.


Dann stand er plötzlich in meinem Sprechzimmer, offerierte mir, dass er eine Freundin habe, die erwarte ein Kind von ihm und ich solle die Beiden als Patienten aufnehmen.

Ich sagte zu. Und fragte ihn, ob er auch mein Patient werden wolle. Nein, vorerst nicht, ihm gehe es gut und er wäre privat versichert.

Ok.

Dann erschienen die drei.

Alle in eine Art Babyspeck gehüllt, seine Partnerin, er, das kleine Mädchen, ich nenne es DorisT, niedlich-rund und gesund.

Monatelang Ruhe.

Routineimpfungen von DorisT. Kleine Wehwehchen der Mama. FrankT immer dabei. Ich solle mich um seine "beiden Mädels" kümmern. Auch später. Meinen fragenden Blick sah er nicht mehr. Er verließ mein Sprechzimmer als Erster.

Einmal erwischte ich ihn hustend.

Mein Bauchgefühl schlug Alarm, ich zitierte ihn zu mir, wollte ihn abhören. Ich weiß nicht mehr, ob er es zu ließ. Ich glaube, ja, aber es macht keinen Unterschied. Ich schickte ihn zum Lunge Röntgen und zum Pulmologen.

Er meinte, er brauche so etwas nicht, wüsste sowieso was er hätte, würde Blut aushusten. Die Caro Zigaretten, geraucht seit er 14 Jahre alt war, hätten es geschafft. Er schaute mir dabei in die Augen, ein kleines feines Lächeln im Gesicht. Ich empfahl ihm die Klinik.

Dann monatelang Ruhe.

Eines Tages, es war im sonnigen August, besuchte ich meine Großmutter.

Isa, meine kleine Tochter, damals knappe 5 Jahre alt, begleitete mich. Die Kleine war mein Ebenbild in diesem Alter, wir beide im Sommerkleidchen, besuchten nun die Oma Elli im Küchwald. Da befand sich eine Station für geriatrische Patienten, die einer Infusion bedurften, weil sie nicht genug Flüssigkeit aufgenommen hatten. "Exsikkose" nannte sich das Krankheitsbild. Großmutter Elli war oft der Meinung, 2 Tassen Kaffee und 1 Tasse Tee reichten am Tag zu trinken aus. Wie oft stritten wir auf sie ein, mehr zu trinken. Man muss die Nieren spülen. Aber Oma Elli war jegliches Durstgefühl abhandengekommen.

Also kaufte ich Obstsaft, Mineralwasser, Blumen, nahm mein Mädelchen an die Hand und so schauten wir nach, ob es der Oma besser ginge, sie vielleicht wieder nach Hause durfte.

Auf dem Rückweg zog es mich zum Aufnahmeschalter förmlich hin.

Gibt es nun Telepathie?

Ein Medium, welches unserem Verstand übergeordnet ist?

Eine Verschränkung?

Ich fragte nach FrankT.

Ja, er läge hier.

Im Haus 5.

So.

Nun besuche ich ihn auch.

Mit meinem Mädelchen.

Wir marschierten wieder zurück. Kauften zum zweiten Mal Blumen und Obstsaft, dann liefen wir zu Haus 5.

Zu FrankT.

Treppe hoch.

Tür auf.

Mir verschlug es den Atem.

Er sass auf der Bettkante.

Schief.

Sein Kopf saß schief auf dem Körper. Ein riesiger Fleischball war ihm aus dem Hals gewachsen. Er konnte den Kopf nicht mehr drehen.

Aber er lächelte mich an. Sein feines Lächeln. Er hätte Therapien bekommen. Sie halfen aber nicht. Sagte dann leise, er werde nun sterben. Und er würde sich sehr über meinen Besuch freuen. Er könne nur noch Schlückchenweise trinken, und das Letzte, was er tun wolle, wäre eine Caro rauchen.

Verlegen übergab ich ihm den Obstsaft und die Blumen.

Mein Mädelchen stand mit weit aufgerissenen Augen bei mir.

Mein Spiegelbild.

Es war der Abschied.

Von FrankT.

Meinem Banknachbarn.

Ende

 



"Riesen und Runen von Harthau"


Der Harthauer Sagenschatz

Zeichnungen und Porträts


Ein Lesecouch - Beitrag von Dr. Benita Martin

Riesen und Runen von Harthau

Zeichnungen und Porträts

Auszug aus dem

Harthauer Sagenschatz



1. Sage 

Der vierfingerige Riese Harth


Es war die Zeit, als Gott die Gebirge erschuf.

Er schob Platten gegen- und übereinander, stapelte sie auf, oder ließ sie einfach wild donnernd hinab rutschen.

Zwei große Felsplattenriesen stellte er so gegeneinander, dass sie die Ähnlichkeit eines V's ergaben, in der Mitte eine tiefe Kerbe.

Gott spielte.

Und so gelang es ihm, dass sich diese beiden Platten fest und stabil in tiefster Mitte abstützten.

Für die kleineren Gebirgsverformungen erschuf er sich Riesen, die die Feinarbeiten verrichten sollten und für sein V-Spiel ernannte er den vierfingerigen Riesen Harth zum Vollender.


So also stapfte ein großer behäbiger Waldriese durch die Felslandschaft und wusste nicht so recht, wo er beginnen sollte. Die Felswände waren rutschig, er fand keinen Halt mit seinen großen zottigen Füßen.

Zudem regnete es laufend und das V bildete damit eine tiefe Wasserrinne, die ein Vorwärtskommen ebenfalls beschwerlich machte.

Die Pflanzensämchen und Tierkinder jammerten. Wo sollten sie sich festhalten? Wo anwachsen? Wo ihre Familien gründen?

Sie flehten den Riesen Harth an: "Bitte lieber Harth. Schaffe uns Bedingungen, die ein Anwachsen für uns möglich macht."


Und so nahm der Riese seine vierfingerige Hand. Grub die Finger tief in die rechte Seite der V-förmigen Felsplatte und zog 4 Spuren hinab in das Tal. Es entstanden 4 Canyons.

Und vier Hügel.

Das Wasser lief somit in 4 Bächen hinab in das Tal und hinunter in das V. Die Berge dazwischen blieben trocken.

Der Riese betrachtete sein Werk.

Argwöhnisch und zweifelnd schüttelte er langsam sein Haupt, wollte ihm das Ganze doch noch nicht so recht gefallen.

Also nahm er zwei Finger seiner anderen Hand, kerbte das V am Grunde des Tales doppelt.

Es entstand eine Aue.

Nun betrachtete er die andere Seite des V's.

Da rief Gott ihn zu sich.

Eine weitere Aufgabe an anderer Stelle ward ihm erteilt.

Und so kam er nicht dazu diese zweite V- Seite zu bearbeiten.

Diese Platte blieb glatt und ohne Kerben.

Aber unten im Tal. Da war es möglich in trockenen Zeiten zu wandern. Es lagerten sich Gesteine und Mutterboden ab. Fruchtbare Erde sammelte sich an und im Laufe der Zeit gediehen dort saftige Arnika-Pflanzen.

So entstand also die Würschnitz mit zwei Armen, Harthau dazwischen als Auwiese, 4 Canyons, die das Wasser von Berbisdorf nach Harthau hinunter leiteten und die Alte Harth, benannt nach unserem vierfingerigen Riesen.

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